Heute im Nordbayrischem Kurier
Pandemie in Tschechien
Die jungen Corona-Toten von Eger
Hans-Jörg Schmidt, 24.02.2021 - 16:22 Uhr
Bedrückende Szene: Medizinische Mitarbeiter schieben am 12. Februar eine Patientin zu einem Krankenwagen vor dem Klinikum. Aufgrund der großen Zahl der Corona-Patienten ist das Haus hoffnungslos überlastet, Kranke müssen in andere Krankenhäuser gebracht werden.
Die Klinik-Kapazitäten im Kreis Karlsbad in der Tschechischen Republik sind erschöpft. Die Ärzte dort sind gezwungen, furchtbare Entscheidungen zu treffen: Wer wird behandelt und wer nicht?
Karlsbad/Prag - Martin (43 Jahre), Stanislav (41), Miroslav (57), Ivana (61), David (39). Nur einige der Covid-Toten eines Tages in der westlichsten Stadt Tschechiens, dem etwas über 20 000 Einwohner zählenden Cheb (Eger). Auf den Din-A4-großen Todesanzeigen in einem speziellen Schaukasten am Markt steht jeweils das Begriffspaar „plötzlich und unerwartet“.
Solche Todesanzeigen – tschechisch: parte – haben lange Tradition. Sie gab es schon, als Böhmen, Mähren und Schlesien noch zum Habsburger Reich gehörten. Todesanzeigen in Zeitungen sind in Tschechien dagegen nicht üblich. Glück im Unglück für die Blätter. Derzeit würden sie dort einen solch großen Raum einnehmen, dass kaum noch journalistische Beiträge erscheinen könnten. Außerdem sind es die Menschen gewöhnt, an den Schaukästen vorbeizuschauen, um zu erfahren, wer von den Mitbürgern seinen letzten schweren Gang hinter sich bringen musste.
Bestatter kommen nicht hinterher
Verantwortlich für die Anzeigen sind die jeweiligen Beerdigungsinstitute. Die kommen derzeit kaum hinterher, die Todesnachrichten zu wechseln. „Seit den Bombardements im Frühjahr 1945 hat es bei uns nie wieder so viele Tote gegeben“, sagt der Bestatter Petr Elizeus einer großen Prager Zeitung. „Normalerweise haben wir hier monatlich 45 Tote. In Zeiten einer normalen Grippe auch schon mal 60. Jetzt im Januar hatten wir mehr als 150, in der ersten Februarhälfte schon 105.“ Elizeus hat bei all dem nur über die Zahlen seines eigenen Bestattungsinstituts gesprochen. Es gibt aber mehrere davon in Cheb.
Neu bei den Toten von Cheb ist, dass sie immer jünger werden. „Es sterben 45-Jährige, 50-Jährige, ich kenne auch 35-Jährige“, sagt der stellvertretende Bürgermeister, Jirí Cerný, der den Ärzten hilft und selbst in einem Sanitätswagen fährt. „Die Menschen stecken sich an, nach drei, vier Tagen müssen sie ins Krankenhaus und dort sofort an ein Sauerstoffgerät. Früher lagen Infizierte wochenlang zu Hause mit Fieber im Bett. Jetzt geht das alles sehr viel schneller. Das Virus sorgt sofort für einen schweren Verlauf.“ Vor ein paar Tagen hatte er einen Patienten, der noch zu Fuß aus seiner Wohnung zum Rettungswagen lief. Als Cerný seinen 24-Stunden-Dienst beendet hatte, hörte er, dass der Mann bereits
gestorben sei.Binnen Stunden.
Keine freien Betten mehr
Das Krankenhaus von Cheb ist mittlerweile kollabiert. Kürzlich wurden noch neue Patienten eingeliefert und rasch durchgecheckt. Durch einen Hinterausgang wurden dann andere, nicht ganz so schlimme Fälle in andere Krankenwagen verfrachtet und in Kliniken gebracht, die noch Reserven hatten. Erst im Karlsbader Kreis, längst auch schon durch ganz Tschechien. Im Kreis selbst gibt es keine freien Betten mehr.
Eine Anlaufstation war bislang die Klinik im mittelböhmischen Slany (Schlan). Doch auch dort muss man sich mittlerweile mit der gefürchteten Triage abfinden. „Wir Ärzte müssen entscheiden, wen wir noch behandeln können und bei wem die Prognosen schlechter sind. Letztere bekommen nicht mehr die Behandlung, die sie eigentlich benötigen würden“, sagt der Chef des Klinikums, Štepán Votrocek. Es ist das erste Mal in der Geschichte der tschechischen Medizin, dass eine solche Auswahl massenhaft vorgenommen werden muss. „Es ist auch für uns Ärzte sehr schwer, damit umzugehen“, sagt der Klinikchef betroffen. Kein Wunder: Er und seine Kollegen müssen hier de facto wider Willen Todesurteile fällen. Es sterben freilich auch neun von zehn Patienten, die in den Kliniken auf Sauerstoff angewiesen sind.
Von der Außenwelt abgeschnitten
Der Karlsbader Kreis gehört zu drei Kreisen, die seit einigen Tagen von der Außenwelt faktisch abgeschnitten sind, weil sie Inzidenzen von mehr als 1000 hatten. Gebracht hat das bislang nichts. Tests bestätigen einen sehr großen Anteil der britischen Mutation des Virus. Und die verbreitet sich jetzt von West nach Ost, nicht Richtung Deutschland, sondern ins tschechische Landesinnere.
Der Bezirk Plzeň (Pilsen) steht auf der Kippe zur Isolation, andere werden folgen, glaubt selbst das zuständige Ministerium. Gesundheitsminister Jan Blatný sieht auch keinen Nutzen mehr in strengeren Vorschriften. „Es liegt nun an jedem Einzelnen.“ Tschechische Journalisten übertrugen diese ernüchternden Worte in noch drastischere: „Rette sich, wer kann“.
Rettung könnte aus den im Grenzbereich liegenden deutschen Kliniken kommen, etwa in Tirschenreuth, Selb oder Hof. Die sind quasi um die Ecke. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) bekräftigte gerade gegenüber dem Tschechischen Fernsehen das lange bestehende Hilfsangebot.
Karlsbads Bezirkschef in Rage
Jetzt reagierte zum ersten Mal auch Premier Andrej Babiš darauf: „Wenn der Bezirkschef von Karlsbad Hilfe braucht, soll er es mir sagen. Ich rufe dann den sächsischen Premier an. Aber erst einmal muss ich eine solche Bitte kennen.“ Karlsbads Bezirkschef Petr Kulhánek brachte das in Rage: „Ich bitte seit Anfang des Jahres um solche Hilfe. In gemeinsamen Videokonferenzen und in Telefonaten mit dem Gesundheitsminister.“
Der Politologe Petr Kratochvíl nennt das Zögern Prags in der „deutschen“ Frage „nationalistisch und ideologisch begründet“. Letztlich bat Premier Andrej Babiš in der vergangenen Woche die Regierungschefs zweier anderer Länder um Hilfe: die von Polen und von Ungarn.